Berlin, den 1. Nov. 42
Mein geliebter Harry! Ach, wie danke ich Dir für Deine Zusage, Du nimmst mir damit einen Felsblock vom Herzen. Ja, ich weiß genau, daß diese Aufgabe ein großes Stück Arbeit ist, aber ich will Dir, so gut es in meinen Kräften steht, dabei helfen. Du hast ganz recht, wenn Du mit mir schimpfst, wenn ich den Kopf manchmal hängen laße. Ich sehe hier viel ärmere, bedauernswertere Menschen als ich es bin. Menschen, die hier sind und sonst keinen auf der Welt mehr haben zu dem ihre Gedanken gehen können und den sie um Hilfe oder auch nur einige liebe Worte bitten können. Und ich weiß immer, ich habe draußen Menschen die mich liebhaben und auf mich warten und die mir schreiben und mich besuchen. Ja, Harrylein, ich bin wirklich noch reich im Verhältnis zu anderen und ich will das auch immer zu schätzen wißen. Harrylein, ich möchte so gerne noch vielmehr an Dienem Leben draußen teilnehmen können. Schreib mir doch, was Du liest, Deine Gedanken darüber was Du anerkennst und ablehnst u.s.w. Mir fehlt hier so sehr ein frischer Gedankenaustausch auf den Gebieten, die mich beschäftigen und interessieren; und was Du denkst und tust liegt mir natürlich besonders am Herzen. Ich freue mich sehr, sehr, daß Du nun wirklich die Kurse nimmst. Ja, mein Harrylein, ich würde sehr gerne hier weiter englisch lernen, aber ich glaube kaum, daß Du die Genehmigung erhältst. Wenn ja, dann schicke mir das Buch „Englisch lernen ein Vergnügen“. Ich will nämlich noch mal alles von vorne wiederholen. Weißt Du Harrylein, ich habe vor einiger Zeit gelesen, daß es für Kriegsverwundete, die nur noch einen Arm o. ein Bein haben Turnkurse gibt und daß diese Menschen nach einiger Zeit körperlich wieder ganz kräftig und vollwertig dadurch werden. Sie lernen auch schwimmen, reiten, radfahren, reckturnen und dergl. Kannst Du Dich nicht einmal bei deiner zuständigen Wehrmeldebehörde erkundigen ob nicht auch Du daran teilnehmen kannst? Das wäre doch sehr schön, wenn Du dadurch körperlich wieder kräftiger werden würdest und Dich das Laufen nicht mehr so sehr anstrengen würde. Vor allem könntest Du dann auch an all dem teilnehmen, was wir andern mühelos können. Das wäre doch wunderschön. Hast Du von Lilly das Buch zurückbekommen? Und hast Du es gelesen? Hast Du mal an Hilde Bock geschrieben? Ich möchte wirklich gerne wißen wie es ihr und dem Jungchen geht. Der ist ja jetzt auch schon über 1 ½ Jahre. Denk‘ mal so alt wäre Urilein auch schon. Ach ja, hoffentlich werden wir auch noch einmal ein Kindchen haben. Bringst Du auch jedes Mal, wenn Du auf den Friedhof fährst, Blumen von mir hin? Ich bin hier eigentlich immer nur physisch anwesend, mein eigentliches Ich ist immer draußen bei Euch und spricht mit Euch. Daher kommt es wahrscheinlich auch, daß wir so oft die gleichen Gedanken und Erlebnisse haben. Weißt Du, Harrylein, ich habe eine merkwürdige Feststellung gemacht, die eine Ahnung bestätigt
Nämlich, daß alle Familien, die in die Wohnung in der Pfalzburgerstr. zogen, ein Schicksalsschlag trifft. Die erste Ahnung davon hatte ich, als der alte Herr Simonson kurz nach ihrem Einzug dort starb. Ich brachte dieses Ereignis unwillkürlich mit dem Schicksal von Dr. Arnheim in Verbindung, daß Du ja auch kennst und daraus formte sich mir die Ahnung, daß uns allen da irgend etwas geschieht. Ich stieß diese Ahnung natürlich beiseite und schalt mich abergläubisch aber nach der Begebenheit mit Dr. Maaß lebte ich in ständiger Erwartung, zwar mehr unbewußt, wann wir und in welcher Art wir nun rankämen. Na, es ist ja dann auch eingetroffen. Weißt Du Harrylein, jetzt ist mir etwas bange um Isr. Aber sage ihnen bitte davon nichts, denn die Wohnung ist natürlich nicht daran schuld, zu der Auffassung bin ich gekommen, sondern es ist umgekehrt. Schicksalsereignisse suchen sich, genau wie Krankheiten einen geeigneten Ort an welchem sie ausbrechen können, und vielleicht kann man auch für einige Zeit durch Meidung dieses Ortes das Ereignis zurückdrängen aber, dann ist es wie mit unterdrückten Krankheiten, es steckt doch noch in einem und untergräbt die Gesundheit vollkommen was beim Schicksal natürlich im übertragenen Sinne gemeint ist. Nach einer überstandenen Krankheit, wir sprachen ja schon darüber, macht der Mensch meistens große körperliche, vor allem Kinder, und geistige Fortschritte. Ebenso ist es meiner Ansicht nach mit dem Schicksal. Oder er geht eben an der Krankheit o. dem Schicksal zugrunde. Dann war er eben nicht stark genug. Na, was mich betrifft, ich will stark sein. Weißt Du bei der Sache mit der Wohnung muß ich sehr an die „drei Lichter der kleinen Veronika“ denken. Die Räume haben dort in der Pfalzbstr. auch so etwas Dunkles, nicht wahr? Wie stellst Du Dich dazu. Denk mal, hier ist eine Schweizerin, die lange Jahre in Dornach gelebt hat und deren Vater Steiner gut bekannt und mit ihm befreundet war. Ich kann hinkommen wo ich will, überall stoße ich auf solche Menschen. Ist das nicht wie eine Aufforderung?
Das Dr. Zipkin tot ist hat mich getroffen. Seine Frau sagte doch es ginge ihm gut dort wo er war. Er war ein lieber Mensch aber er hatte leider auch nicht den Mut entweder, oder zu sagen. Vielleicht ist das mit ein Grund an seinem frühen Tod, denn das habe ich jetzt gelernt man muß immer klar wißen wohin man gehört und seiner Herzensüberzeugung nach gehen, dann braucht man sich nie zu sagen: „ach, das hätte ja nicht sein brauchen.“
Ob ihr wohl morgen kommt? Die 14 Tage sind immer wie ein Berg der erklommen werden muß. Nach 8 Tagen bin ich auf der Spitze, aber dan platze ich auch förmlich schon vor Gedanken, die ich Dir mitteilen möchte. Manchmal setze ich mich, wenn ich Papier habe, dann schon hin und schreibe an Euch, eigentlich nur mehr um die Gedanken zu ordnen. Auch diesmal habe ich es getan aber ich schicke Euch das Geschreibsel nicht es ist nicht wichtig. Entschuldige den merwürdigen „Briefbogen“, aber es waren heute nur so wenige da, daß jeder nur einen Bogen bekommen konnte, na, und da dachte ich: „Selbst ist der Mann“.
Ach, ich muß Dir mal erzählen wie wir hier uns ein „feudales“ Abend brot zusammensparen. Aber bitte, bemitleide mich nicht, es geht ganz wurderbar. Also morgens bekommen wir ein Stück tr. Brot. Daraus machen wir uns 3 dünne Stullen. Davon werden 1 ½ gegessen und 1 ½ zurückgelegt. Das ist um 7 Uhr. Um 10 Uhr, nach der Freistunde essen wir eine halbe Stulle mit Salz und dann arbeiten wir weiter bis Mittag um 12 Uhr. Meistens ist das Mittag ja zusammengekocht und da füllen wir uns unseren Kaffeetopf voll ab (unser Geschirr ist übrigens aus weißem Steingut, also kein „Hundenapf wie am Alex) und den Rest essen wir. Wenn es Pellkartoffeln mit
Soße gibt wie heute, dann heben wir uns einige Kartoffeln zum Abend auf. Und dann halten wir wieder durch bis abends. Abends gibt es manchmal Suppe mit tr. Brot, o. es gibt zwei Scheiben Brot, wovon eine mit Margarine bestrichen ist und ein Stückchen Wurst, Sülze o. Käse dazu. So, nun haben wir also erstens noch eine Scheibe Brot von früh und zweitens unsern Topf Mittag oder die Kartoffeln von Mittag und drittens unser Abendbrot. Das ist immer ein Festessen. Wenn wir damit dann fertig sind, dann sind wir wenigstens satt. Dann machen wir unser Bett und legen uns gemütlich rinn und lesen. Das ist dann immer das Schönste am ganzen Tag. Wenn dann das Licht ausgemacht wird und es ist klares Wetter, dann kann ich ein Stück Himmel und Sterne sehen, (ich hab‘ nämlich meine Matratze so gelegt, daß ich mit den Augen zum Fenster rausgucke) und dann denke ich immer noch eine Weile an Mutti und Dich und Urilein und dann schlafe ich ein. Na, und so ist eben jeder Tag, mit kl. Variationen, die hier natürlich zu Sensationen werden. Weißt Du, daß einem hier Brot wirklich wieder das wird, was es ist? Etwas Heiliges und nicht mehr nur ein mehr nebensächliches Nahrungsmittel wo unbedingt was drauf sein muß. Das merkwürdige daran ist, durch diese Einstellung ißt man auch ganz anders und vor allem, das Eßen nährt ganz anders. Ich habe hier erfahren, daß das Eßen hauptsächlich das Brot eßen wirklich zu einer religiösen Handlung werden kann. Hier geht einem der Sinn des Abendmahls auf. Aber ich weiß nicht, Harrylein, ob Du mir das so nachempfinden kannst. Vielleicht hältst Du mich für überspannt, aber ich erlebe es tägich.
Bringt mir doch mal wieder was anderes anzuziehen mit. Ich möchte den Rock nachhause geben.
Harrlein, schreib mir öfter, ich warte immer so sehnsüchtig auf Post. Grüße alle die mich grüßen ließen und sei Du selbst recht, recht herzlich und sehnsüchtig geküßt von Deinem Baby.
Bleib stark und ausdauernd und gutes Gelingen. Berichte mir bitte darüber, ja? B.